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Corinne Bailey Rae
Es gibt eine klare Regel für das Gespräch mit Corinne Bailey Rae im Kölner Hotel „Hyatt“: Keine Fragen zum Tod ihres Mannes, sonst bricht der im Raum anwesende Betreuer das Interview ab. Das ist verständlich. Corinne, die mit ihrem 2006 veröffentlichten Debüt „Corinne Bailey Rae“ sowie der Single „Put your Records on“ für viel Aufsehen und vier Millionen verkaufte Tonträger sorgte, fällt es immer noch schwer, über das tragische Ereignis zu reden – erst recht, wenn sich die Journalisten im Halbstundentakt die Klinke in die Hand geben. Also kurz der Hintergrund: Jason Rae, den Corinne während des Literaturstudiums an der Uni ihrer Heimatstadt Leeds kennenlernte und 2001 heiratete, starb am 22. März 2008. Nach einer durchzechten Nacht nahm er bei einem Kumpel eine versehentliche Überdosis Methadon zu sich, was er nicht überlebte. Mit der Arbeit an ihrem zweiten Album „The Sea“ hatte die 30-Jährige zwar schon vor dem Drama begonnen. Doch speziell die Stücke, die sie danach schrieb, geben dem Album vollends den Charakter eines dunkel-intensiven Trauerwerks.

Corinne: Gut fühlt sich das an. Ein wenig kommt es mir vor, als würde ich wieder von vorne beginnen. Ich hatte großen Erfolg mit der ersten Platte, aber die Pause war wirklich lang, und deshalb wird es spannend sein zu sehen, wie die Menschen mit meinen neuen Songs zurechtkommen.
Ist dir das Schreiben der neuen Stücke schwergefallen?
Corinne: Nein, ich habe mir so viel Zeit genommen, wie ich brauchte, und ich habe praktisch alles komplett alleine aufgenommen. Dadurch waren keine Kompromisse nötig, ich konnte mich komplett ausleben und verwirklichen. Bei meinem ersten Album habe ich noch versucht, mit unterschiedlichen Songschreibern die Ideen gemeinsam zu erarbeiten. Mich aber erfüllt es einfach mehr, wenn ich alleine an den Songs arbeite.
Warum?
Corinne: Musik, die du selbst machst, ist ungewöhnlicher, ehrlicher und persönlicher. „The Sea“ musste eine extrem persönliche Platte werden, anders ging es gar nicht. Ich konnte niemandem um mich herum haben, der meine Ideen und Gedanken filtert oder zensiert.
Du benötigst also viel Freiheit, um gute Musik zu erschaffen?
Corinne: Absolut. Ich war ja auch bei meiner ersten Platte kein Neuling mehr. Ich hatte seit Jahren in meiner Band, Helen, gesungen und glaubte zu wissen, was ich tat. Ich bin zu meiner Plattenfirma gegangen und habe gesagt „Das hier ist mein Album – wollt ihr mich unter Vertrag nehmen oder nicht?“ Die Platte wurde ein großer Erfolg, woraufhin mir das Label nun bei der zweiten wirklich freie Hand gegeben und vertraut hat.
Wie sehr hast du anfangs an deinem Image oder Aussehen arbeiten müssen?
Corinne: Zum Glück überhaupt nicht. Ich bin ja mit diesem fertigen Album unter Vertrag genommen worden. Niemand hat von mir verlangt, die Frisur zu ändern oder fünf Kilo abzunehmen. Trotzdem haben mich anfangs immer die Taxifahrer gefragt. „Und? Welches der Sugababes bist du?“
Was hast du mit der Band Helen für Musik gemacht?
Corinne: Rock. Einmal haben wir im selben Pub gespielt, in dem Nirvana damals in Leeds aufgetreten sind. Ich mochte die Indieszene insgesamt sehr gern. Diese glamorösen Figuren der schwarzen Musik, die Whitney Houstons dieser Welt, haben mich nie so interessiert. Das lässige, einfache, unperfekte im Gitarrenrock lag mir einfach näher.
Du hast Englische Literatur studiert. Wie kam das dann plötzlich mit deinem Plattenvertrag?
Corinne: Ich habe schon immer gehofft, einen Vertrag zu bekommen. Mit Helen war das ja auch ein ziemlicher Kampf. Während meiner Unizeit habe ich in einem Soulclub als DJ gearbeitet, Funk und Motownmusik aufgelegt. Manchmal durfte ich auch mit den anderen Gruppen dort singen. Dann hatte ich meinen Uniabschluss, viele meiner Freunde bekamen richtig gute Jobs, aber ich fing an, in Cafes zu kellnern und nebenher zu singen. Das war schon komisch.
Kam ein anständiger Beruf für dich nicht in Frage?
Corinne: Ich war hin- und hergerissen. Aber ich wollte lieber Musik machen. Irgendwo hatte ich es im Kopf, dass es doch funktionieren könnte Hat es dich je überrascht, dass du so viele Menschen mit deiner Musik berührt hast?
Corinne: Eindeutig ja. Ich habe diesen Erfolg nicht erwartet. Ich dachte, mein erstes Album wäre höchstens unter Kennern oder Kritikern ein Erfolg. Aber nun gut, dann war ich überall auf Platz Eins, echt geschockt, aber es hat auch Spaß gemacht.
Du kombinierst in deiner Musik scheinbar verschiedene Welten – du kommst vom Indierock und singtst zugleich Soul und Jazz.
Corinne: Ich weiß, für Außenstehende sind das verschiedene Welten. Für mich gehört diese Welt, meine Welt, aber logischerweise zusammen. Ich spiele recht heftige Gitarrensongs auf diesem Album, aber auch sehr sanfte Lieder. Das mag ich. Ich muss keine Seite ergreifen, mich nicht limitieren.
War das auch deine Grundidee für „The Sea“?
Corinne: Gewissermaßen schon. Ich wollte ein Album aufnehmen, kontrastreicher und dramatischer ist als mein Debüt. Dieses Ziel hatte ich bereits vor dem großen Einschnitt in meinem Leben. Ich wollte, dass meine Lieder dunkler werden und zugleich selbstbewusster klingen.
Bist du froh, dass du „The Sea“ vollendet hast?
Corinne: Ja, ich habe das Gefühl, ich habe etwas geschafft, etwas geleistet. Die Platte ist ziemlich bewegend, aber es tut mir gut, sie zu hören.
Du kannst dir deine eigenen Songs anhören?
Corinne: Ja. Meine Musik tröstet mich. Darüber bin ich sehr froh und auch erleichtert. Ich bin in der Lage, das Album wirklich zu genießen, trotz aller Schwere und Traurigkeit. Ich finde es allerdings auch gut, dass nicht alle der Lieder um das Thema Trauer kreisen.
Stand der Titel von Beginn an fest?
Corinne: Nein, für den Titel habe ich mich erst am Schluss entschieden, als ich feststellte, dass Wasser eine große Rolle in diesen Songs spielt. Immer wieder greife ich dieses Thema auf. Wasser steht für Bewegung, für Wucht, für eine Kraft, die alles durchdringt und alles beherscht. Wasser ist ein schönes Bild dafür, wie dich Liebe und Verlust betreffen, was diese Gefühle mit dir machen. Und den Song „The Sea“ hatte ich ja auch bereits seit längerem geschrieben.
Bist du gerne am Meer?
Corinne: Aber ja. Ich bin irgendwo eindeutig ein Wasserwesen, das liegt mir im Blut. Mein Vater stammt aus der Karibik, von der Insel St. Kitts. Auch wenn ich noch nie dort war, fühlen sich meine Gene zum Wasser hingezogen. Am Meer zu sein, das fühlt sich immer so an, als säße man am Ende der Welt. Ich sitze gern am Wasser, schaue auf den Horizont, meditiere und versuche, mit mir selbst in Verbindung zu treten.
Der Titelsong selbst handelt von deinem Großvater, der bei einem Bootsunfall ertrunken ist.
Corinne: Das stimmt, ja. Mit dieser Geschichte bin ich als Kind aufgewachsen. Meine Tante hat sie immer erzählt. Meine Mutter und ihre Schwestern haben den Unfall mit eigenen Augen gesehen, das habe ich lange gar nicht gewusst.
Würdest du „The Sea“ als Konzeptalbum bezeichnen?
Corinne: Nein, zu einem Konzept gehört Planung, und ich habe nicht viel geplant an dieser Platte. Es hat sich so entwickelt.
Lag es auf der Hand, das Album ausgerechnet mit „Are you here“ zu beginnen? Du singst in dem Liebeslied über einen Menschen, der nicht mehr da ist, aber nach dem du dich sehr sehnst und jeder wird wissen, wer gemeint ist.
Corinne: Natürlich. „Are you here“ ist meinem Ehemann gewidmet. Das war eines der ersten Lieder, das ich nach seinem Tod geschrieben habe. Ich fand es wichtig, „Are you here“ an den Anfang zu setzen. Ich wollte meine Geschichte nicht verstecken. Das Statement des Songs ist ja sehr klar und eindeutig.
Viele Künstler betonen die therapeutische Wirkung ihrer eigenen Arbeit. Wie ist das bei dir und dieser Platte gewesen. Hast du Trost im Songschreiben und Aufnehmen gefunden?
Corinne: Ich habe es als sehr wichtig und tröstend empfunden, mich selbst und meine Emotionen ausdrücken zu können. Das hat mich wahnsinnig befreit. Ich weiß, dass nicht jeder Mensch diese Gabe besitzt, deshalb bin ich sehr, sehr dankbar dafür, dass ich sie habe.
Hattest du je Angst, dass dir keine Songs mehr einfallen würden?
Corinne. Früher kannte ich dieses Gefühl. Als ich 17 war und in Helen noch Punkrock sang, da hat mich diese Sorge stets begleitet. Als ich dieses Album schrieb, kam zu keinem Zeitpunkt diese Versagensangst auf. Ich spürte, dass schon 2007, nach der Tour, die neuen Songs nur so aus mir heraus sprudelten. Dann kam selbstverständlich eine Phase, in der ich überhaupt nicht kreativ war, nicht kreativ sein konnte und wollte. Aber zu der Zeit habe ich mir keine Sorgen übers Songschreiben gemacht. Ich habe überhaupt nicht an Musik gedacht, monatelang. In mir drin war es vollkommen leer und vollkommen still.
Ohne dir zu nahe treten zu wollen – wie darf man sich diese Trauerphase vorstellen? Was hast du gemacht?
Corinne: Nichts, wirklich nichts. Fast ein Jahr lang saß ich nur am Küchentisch. Ich hatte keinen Sinn mehr in irgendetwas gesehen, ich war abwesend, versteinert. Mir war es egal, ob ich morgens aufstand, ob ich mich anzog, mich wusch. Es gab Wochen, in denen habe ich kein einziges Mal den Schlafanzug ausgezogen.
Hast du alleine am Küchentisch gesessen?
Corinne: Nein, ich war nie allein. Zum Glück. Meine Mutter und meine beiden Schwestern zogen vorübergehend bei mir ein, kochten für mich und kümmerten sich um mich. Ich bin ihnen so dankbar. Auch meine Freunde waren immer für mich da. So ganz langsam und mit winzigen Schritten haben sie mich zurückgeführt ins Leben.
Irgendwann kam dann auch die Kreativität zurück?
Corinne: Ja, ohne dass ich das gemerkt oder forciert hätte. Mein System, das durch die Trauer abgeschaltet war, lief nach und nach wieder an. Was nicht heißt, dass ich nun wieder der selbe Mensch bin, der ich früher war. Denn so wird es nie wieder sein.
Du hast als Kind und Jugendliche in der Kirche gesungen. Glaubst du an Gott?
Corinne: Die Kirchengemeinde, in der ich sang, war sehr intellektuell, fortschrittlich und liberal. Aber ja, ich bin ein spiritueller Mensch, und ich glaube an Gott. Mein Glaube ist aber ein bisschen komplex und widersprüchlich. Ich versuche immer noch, herauszufinden, wozu das alles gut ist, was Gott so mit uns treibt. Ich habe nicht dieses naive „Wenn du nur glaubst, wird alles gut“-Gottvertrauen. Eher bin ich ein Mensch, der mit Gott gern diskutiert, auch hadert und Fragen stellt.
Hörst du inzwischen wieder Musik?
Corinne: Ja, vor allem gehe ich wieder aus. Ich war in den letzten Monaten bei einer ganzen Rehe von Konzerten. Am liebsten höre ich mir Jazzbands an, dabei kann ich alle meine Gedanken, Sorgen und Probleme vergessen. Du siehst einen Saxophonspieler, der bläst in sein Gerät und pustet dir damit ganz radikal deinen Kopf frei. Wunderbar.
Du bist eine erfolgreiche, hübsche, berühmte junge Sängerin. Aber du wirkst nicht wie eine dieser typischen britischen Klatschpressenmusikerinnen. Wie hast du dir deine Integrität bewahrt?
Corinne: Als das mit meinem Erfolg anfing, war ich schon älter. Ich war 26, 27 anstatt 18 oder 19. Ich hatte nie das Gefühl, dass sich mein Leben wegen des Erfolgs geändert hat. Ich habe mich nie wie eine Berühmtheit gefühlt. Ich bin auch nie eine dieser Medienpersönlichkeiten geworden. Ich gehe nicht zu Premierenparties und habe keine berühmten Freunde. Ich lebe nicht einmal in London, sondern im vollkommen unglamorösen Leeds. Ich bin der wirklichen Welt nicht entflohen.
Und hast das auch nicht vor.
Corinne: Nein. Ich will mir mein Leben bewahren und nicht mein ganzes Dasein von diesem komischen Ruhm aufsaugen lassen. Ich teile meine Lieder wirklich gern mit den Menschen, aber am Ende eines Konzerts gehe ich nach Hause, und auch das Publikum geht nach Hause. Es wäre unschön für mich, permanent ein Teil im Leben der Menschen zu sein. Ich brauche meine Freiheit. Ich möchte nicht, dass jeder alles über mich weiß.

Interessanterweise kommt das neue Album von Sade fast zeitgleich mit „The Sea“ auf den Markt. Sade beherrscht diese Verschwindetechnik perfekt. Du siehst und hörst zehn Jahre nichts von ihr, und plötzlich ist sie wieder da.
Corinne: Sade macht es absolut richtig Bei ihr geht es nur um die Musik, nicht um alles andere. Erykah Badu ist ein anderes Beispiel. Ich liebe ihre Musik, aber ich weiß nicht, mit wem sie zusammen ist. Oder wie ihre Kinder aussehen. Ist mir auch total gleichgültig. Björk auch. Ich will nicht wissen, wie diese Menschen sind oder welche Farbe ihr BH hat. Sondern mich interessiert und begeistert, was sie musikalisch zu sagen haben.
Die meisten Leute, die deine Musik mögen und dein Album kaufen, dürften wissen, dass es in deinem Leben ein dramatisches und sehr trauriges Ereignis gegeben hat. Man kann das nicht wegschweigen und ignorieren, du tust das auch nicht. Geht es in deiner Musik nicht ausschließlich um den Tod deines Mannes, und die Menschen sollen ihre eigenen Bilder beim Hören der Songs im Kopf entwickeln. Ist es ein Balanceakt, aufrichtig zu sein, ohne dass der Rest der Menschheit an deinem Privatleben teilnimmt?
Corinne: Das ist ein Balanceakt, keine Frage. Für mich ist es auch nicht immer ganz leicht, auseinanderzuhalten, ob ich nun in so einem Interview über mein Leben oder über meine Lieder spreche. Ich denke, ich würde auch detaillierter auf meine persönliche Geschichte eingehen, wenn ich nicht das Gefühl hätte, ich tue dem Album damit Unrecht. Denn ich möchte nicht, dass es im Schatten meiner eigenen Trauer steht. Aber ja, das ist schon eine verzwickte Situation: Ich will den Songs nicht im Weg stehen. Sie sollen die Leute erreichen, ohne dass alle dauernd daran denken, wie mein Mann gestorben ist.
Album „The Sea“ seit 29. Januar - Text:Steffen Rüth
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